Antonias Welt: Kritik - K50 neue Website

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Filmbeschreibungen


Der Weltkrieg ist vorbei, als Antonia, eine gestandene, resolute Frau  Anfang Vierzig, in ihr holländisches Heimatdorf zurückkehrt, um ihre  Mutter zu begraben. Hier, abseits der gärenden Städte, herrschen seit  Jahrhunderten die selben Gesetze: Die Jahreszeiten und das katholische  Kirchenjahr diktieren den Rhythmus des Lebens, und die bäuerlichen  Sitten und Gewohnheiten sorgen dafür, daß ein Zugezogener wie Bauer Bas  auch nach 20 Jahren immer noch als Neuling gilt. Die eigensinnige  Städterin, die zusammen mit ihrer Tochter Danielle den Hof ihrer  Vorfahren bewirtschaften will, läßt man mit derselben Gleichgültigkeit  gewähren wie eine schlechte Ernte oder ein behindertes Kind hingenommen  wird. Selbst als Antonias Anwesen allmählich zur Anlaufstelle für  Außenseiter wird, auf dem die geistig behinderte und von ihrem Bruder  mißbrauchte Deedee ebenso Aufnahme findet wie der Dorftrottel Lippen  Willem, nimmt kaum jemand Anstoß daran. Ein kurzer Aufstand in Gestalt  geharnischter Worte von der Kanzel herab bricht erst los, als Danielle,  die inzwischen Malerei studiert hat, sich ein Kind, aber keinen Ehemann  wünscht und damit bei ihrer Mutter auf Verständnis und tatkräftige  Hilfestellung stößt. Der Prediger aber ist selbst nur ein Sünder und  tappt blindlings in die Falle seiner Doppelmoral, die Bauer Bas  geschickt arrangiert hat. Ein Dreivierteljahr später wächst mit der  blonden Therese nicht nur die dritte männerlose Generation auf dem Hof  heran, sondern findet auch der einsame Krummfinger, ein depressiver  Grübler im Banne Schopenhauers, endlich eine vertraute Seele, mit der er  stündenlang diskutieren kann. Thereses mathematisches wie musikalisches  Genie wird bald erkannt und gefördert, und binnen kurzem ist das  Mädchen ihren Lehrern überlegen. Kaum 20jährig lehrt sie als Dozentin an  der Universität. Obwohl mehr in der Welt der Noten und Zahlen als in  irdischen Sphären zuhause, meldet sich auch bei ihr während eines  Familientreffens an Antonias großer Tafel Nachwuchs an: Sarah, ein  feuerroter Wuschelschopf, die viel Charakter und Temperament ihrer  lebensklugen Urgroßmutter erben wird.Sarah wird auch die erste  sein, der die inzwischen 90jährige Antonia von ihrem nahen Tod erzählt,  nachdem sie eines Morgens nach einem langen Blick in den Spiegel  befindet, daß es nun genug sei. Mit dieser Sequenz beginnt Marleen  Gorris' außergewöhnliche Chronik einer unabhängigen Frauendynastie, ein  feministisches "Märchen", das dazu angetan ist, die fundamentalen  Anliegen der Emanzipationsbewegung neu ins Gedächtnis zu rufen. "Meine  fünf Söhne brauchen eine Mutter", versucht Witwer Bas sein Werben um  Antonias Hand zu begründen, von der er Arbeit, Anerkennung und  Zuneigung, schließlich sogar auch Liebe, nur nicht das Ja-Wort erhält:  "Ich aber deine Söhne nicht", entgegnet sie mit entschiedenem Lächeln;  ein Schlüsselsatz, der das bürgerlich-patriarchal konstruierte  Sozialgefüge in seinem Kern aufsprengt. Die holländische Regisseurin, in  ihren ersten Filmen ironisch-sarkastisch auf der Spur männlichen Wahns,  entwirft hier spielerisch das utopische Gegenbild eines weiblich  dominierten Universums, in dem es durchaus leibliche wie geistige  Elternschaft, aber nicht mehr die tradierten Rollen des "Vaters" oder  der "Mutter" gibt. Geschickt untergräbt der episodenhafte Rückblick  klassische Argumente männlicher Herrschaft wie Kraft, Wille oder  Begabung, wenn Antonia ihre Frau als Bäuerin steht, Danielle von der  Muse, Therese vom Genius der Wissenschaft geküßt wird und sich in der  erdverbundenen, sprachverliebten Sarah vielleicht sogar eine spirituelle  Ebene andeutet. Im Bild der fröhlichen Tafelrunde, an der Begabte wie  Behinderte, Männer wie Frauen, Kinder und Greise einträchtig Platz  finden, gipfelt diese humorvolle, stets mit einem leisem Augenzwinkern  entworfene Vision einer anderen Welt, in der die Unterschiede zwar nicht  aufgehoben, aber ihrer Herrschaftsfunktion beraubt sind.Getragen  wird dieses Typen- und Charakterepanoptikum von einem sorgfältig  ausgewählten Schauspielerensemble, das mit Leidenschaft und großer  Hingabe agiert, wobei Willeke van Ammelrooy als großherzige, schlaue  Matriarchin souverän im Mittelpunkt steht. Kamera und Ausstattung  verstärken die in den Figuren angelegten Eigenheiten, wodurch noch eine  Gestalt wie die immer fröhliche Letta, die vor lauter Freude an der  Schwangerschaft ein Kind nach dem anderen zur Welt bringt und im  entlaufenen Kaplan das passende Gegenstück findet, nicht zur bloßen  Karikatur gerät. Selbst die traurige Erscheinung des misanthropen  Philosophen rutscht nicht in die Rolle des reuigen Statthalters  einstiger Herrlichkeit ab, wie auch die anderen komischen Käuze dieses  idealisierten Kosmos nie zur Staffage geraten oder zu Stichwortgebern  degradiert werden.Wie in jedem Mythos finden sich auch in Gorris'  Welt nur am Rande Einsprengsel der historischen Gegenwart, während sich  das Geschehen in einer losgelösten Raum-Zeit-Konstellation, in Utopia  eben, entfaltet. Dies erklärt manchen märchenhaften Zug, die Verwendung  von Elementen aus dem Repertoire des magischen Realismus oder auch die  weitgehende Vernachlässigung der Ergebnisse soziologisch-feministischer  Herrschaftsanalysen und ihrer Theoreme. In ihrem Bemühen, ein positives  Gegenbild zu entwerfen, in dem Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr  bloß Zielvorstellungen, sondern greifbare Wirklichkeit sind, gerät  Gorris allerdings ein zentrales Element, das Ende des Daseins, aus dem  Griff. Obwohl Tod und Sterben in vielen Szenen wie selbstverständlich  gegenwärtig sind und Krummfinger schließlich am Denken und der  Menschheit verzweifelt, fehlt in der Frauensaga gerade die Erfahrung  radikaler Endlichkeit. Antonias Credo, dem Leben dadurch Sinn zu  verleihen, daß man es einfach lebt, schließt zwar auch ihr Ende mit ein,  das sie, im biblischen Alter, lebenssatt und zufrieden für gekommen  hält. Vom schockierenden Schwindel des Nichts aber, dem Stachel des  Todes, spürt man in den auch dramaturgisch zu kurz geratenen Todesszenen  anderer Figuren nur einen leisen Anflug, wie auch menschliches  Scheitern, Schuld oder das Tragische nicht präsent sind. Ein blinder  Fleck, den der Film mit seinem Feminismus teilt. Dem umwerfenden Charme  und der visionären Kraft von Marleen Gorris vitaler Geschlechterfabel  tut dies jedoch keinen Abbruch.
Josef Lederle, FILMDIENST 1996/18    

 
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