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Filmbeschreibungen


 
„Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde  alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht  einmal, ob heute wirklich der fünfte November ist.“ Sowohl Marlen  Haushofers Roman als auch seine Verfilmung durch Julian Pölsler beginnen  mit diesen (Vor-)Sätzen. Was man im Buch liest, das erklingt im Film  aus dem Off und wird gesprochen von der Schauspielerin Martina Gedeck,  während man im Bild sieht, wie sie schreibt, sich immer wieder  unterbricht, auf und ab geht, sich sammelt, das Geschehene  rekapituliert: eine tiefen Ernst ausstrahlende, beherrscht und doch  unendlich erschöpft wirkende Frau mit kurzen Haaren, umhergehend in  einer Holzhütte, wie gefangen in der idyllischen Stille des  abgedunkelten Innenraums, einer Art Höhle, aus der heraus ihre  Erinnerungen aufsteigen, zu Geschichten und zu Bildern werden. Die  Erzählerin bemüht sich um Chronologie, wird bald aber immer häufiger in  der Zeit vorgreifen und dann wieder zurückspringen, sodass sich die  erzählten Ebenen zu reflektierten Gedanken verzahnen. Immer intensiver  fließen innere und äußere Befindlichkeiten zusammen, und mit der  Erzählerin gewöhnt sich auch der Zuschauer allmählich an jenes  spezifische Verständnis von Zeit – an „ihre Gleichgültigkeit und ihre  Allgegenwart“ –, das mit dem fließenden Hineinwachsen in eine neue  Ordnung einhergeht. Tatsächlich ist es, als würde „eine große Hand die  Uhr im Kopf still stehen lassen“, sodass man klar die ganze  Ungeheuerlichkeit des Geschehenen, aber auch die daraus erwachsenen  existenziellen Konsequenzen erfasst: Ein Mensch, völlig allein auf der  Welt, lebt und überlebt, isoliert von anderen Menschen (die im Tod  erstarrt zu sein scheinen), hinter einer unsichtbaren Wand, ist  angewiesen auf die Ressourcen des sie umgebenden Waldes, ringt um ihre  seelische Fassung, hadert und zweifelt, geprägt und doch auch  erkenntnisreich getröstet durch die Schönheiten sowie die Härten der  Natur – und durch ihre Haustiere, eine Kuh, zwei Katzen und, vor allem,  einen Hund als treuer, „wissender“ Freund.

Marlen Haushofers  Roman, erstmals 1963 veröffentlicht, aber erst im Zuge der  Frauenbewegung entdeckt und gewürdigt, liegt ein Gedankenspiel zugrunde,  das genauso gut einem dystopischen Science-Fiction-Stoff entstammen  könnte: Die namenlose Protagonistin und Ich-Erzählerin besucht für einen  Kurzurlaub mit einem befreundeten Paar dessen abgelegene Jagdhütte in  den Bergen und bleibt allein zurück, als die Freunde noch einmal kurz  ins nächste Dorf fahren, doch nie zurückkehren. Fortan ist die Frau  quasi allein auf der Welt, isoliert und ohne jeden Kontakt,  zurückgeworfen auf sich selbst und ihre eigene Existenz – umgeben von  einer unsichtbaren Mauer. Ihr Handlungsraum ist dabei ausreichend groß,  um sich den Wald und die angrenzenden Almen zu erschließen, und doch  auch äußerst begrenzt; hinter der Mauer scheint indes alles Leben zum  Erliegen gekommen zu sein.

Diese Fabel kann man als das Schicksal  einer fremdbestimmten, abhängigen Frau und damit als Dokument einer  weiblichen Emanzipation lesen; auch funktioniert sie durchweg als  abenteuerlich-düstere Robinsonade, ebenso als bittere Kritik an der  Zivilisation – und ist vielleicht ja „nur“ die metaphorische Darstellung  einer Depression. Alles erscheint möglich und plausibel, alle  Möglichkeiten klingen zugleich an in diesem beklemmenden, intensiven  „Buch im Buch“, das durchaus polarisiert. Was glücklicherweise auch für  den Film gilt, der als nicht minder dichte, intensive Studie überzeugt,  als Reflexion über diverse Spielarten zwischen tragischem Welt-Verlust  und tiefem Glücksempfinden angesichts neu- oder wiederentdeckter  Fähigkeiten und Gefühle. Wenn sich für die Protagonistin ganz allmählich  das Leben neu ordnet, wenn sie aus einem instinktiven Überlebensimpuls  heraus lernt, Verantwortung zu übernehmen, sie ihre Ängste überwindet,  Dinge (er-)schafft und meistert, wenn sie pflanzt und erntet,  Krankheiten wie auch seelischen und körperlichen Schmerz erträgt und  sich für die Qual des Überlebenskampfs mit dem wärmenden Sonnenlicht auf  der Alm belohnt – dann wird der Film mitunter zur jubilierenden Hymne  auf die menschliche Existenz. „Zum ersten Mal in meinem Leben war ich  besänftigt“, erklärt die Frau dann relativierend, „nicht glücklich und  zufrieden, aber besänftigt.“

Natürlich prägt das Literarische den  Film. Wenn Martina Gedeck aus dem Off spricht und exakt aus dem Roman  zitiert, dann ergäbe sich allein schon daraus ein fulminantes Hörbuch.  Doch die Filmbilder sind nie nur schmückend-redundantes Beiwerk,  schaffen vielmehr einen reichen Mehrwert an sinnlichen Eindrücken und  Erkenntnissen – in ihrer atemberaubenden Schönheit schmerzen sie im  einen Moment und versetzen im nächsten in einen wahren Glückstaumel. Im  trägen Rhythmus der wechselnden Jahreszeiten saugen sie den Betrachter  ins Atmosphärische hinein und vergegenwärtigen doch stets konkret die  Grundspannung eines Lebens in und mit der Natur, das permanent der  existenziellen Bedrohung, der Gefährdung, schließlich auch der  Katastrophe ausgesetzt ist.

Anders als all die betont schönen,  oft aber eher distanzlos staunenden „Naturfilme“ der jüngsten Zeit dockt  „Die Wand“ fernab von jedem metaphysischen Gewabere nachhaltig an der  menschlichen Existenz an, als deren grundlegendes Prinzip die Erzählerin  die Liebe erkennt – als einzige, womöglich längst verspielte Hoffnung  auf ein besseres Leben: „Ich kann nicht verstehen, dass wir den falschen  Weg einschlagen mussten, und weiß nur, dass es zu spät ist.“ Dabei  gelingt es der souverän agierenden Martina Gedeck zutiefst bewegend,  ihre Protagonistin immer wieder in das einzige Wesen zurück zu  verwandeln, das nicht in diese Welt gehört: in einen Menschen, unter  dessen plumpen Schritten der Wald erbebt. In Martina Gedecks stummem  Agieren, im Wandel ihrer Kleidung, der Haltung ihres Körpers sowie der  reichen Nuancen ihres Gesichts bündelt sich nachhaltig die Essenz des  Romans: „Ich hatte wenig erreicht von allem, was ich gewollt hatte, und  alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt.“

Horst Peter Koll, FILMDIENST 2012/21    

 
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