Leto: Kritik - K50 Website 2019

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Leto: Kritik

Filmbeschreibungen


        
            
Kirill Serebrennikovs meisterliches Porträt der Punkbewegung in der Sowjetunion der 1980er Jahre, festgemacht an einer Dreiecks-Liebesgeschichte.
Der Nachmittag, an dem alles anfing: ein Sonntag am Strand, eine Gruppe Jugendlicher, Wein, Wodka, Musik. Irgendwann wird nackt gebadet, am Lagerfeuer gesungen. Die beiden Neuen in der Gruppe gehören nun auch dazu. Eines der Lieder heißt „Sommer“, auf Russisch „Leto“: „Summer! / Recently I’ve heard somewhere / That a comet will come soon / And we will all die“. Das könnte sich überall ereignen, spielt aber in „Leningrad, in den frühen 1980er-Jahren“, wie ein Insert verrät, mitten in der UdSSR, aber weit weg vom Sowjetstaat. Zu Beginn ist die Kamera Gast bei einem halblegalen Konzert in einem Hinterhof; ein paar Herren von der Partei sind auch da und sorgen dafür, dass allzu enthusiastisch zur Schau gestellte Emotionen schnell wieder verschwinden. Es spielt eine Band namens „Zoopark“ mit ihrem Frontmann Maik; im Saal sind seine Freundin Natascha und andere, die man bald besser kennenlernt.
Weil dies alles in der UdSSR spielt, schaut man anders auf scheinbar Nebensächliches, genauer, kritischer, aufmerksamer; man bemerkt Adidas-Schuhe, Jeans, westliche Musik, westliche Namen. Der Westen ist Vorbild für diese Jugendlichen, ein Sehnsuchtsraum, in den all ihre Träume, Hoffnungen und mitunter auch pure Utopien projiziert werden. Man bemerkt aber auch, wie großartig die Kamera ist, wie sie in fließenden Bewegungen sensibel beobachtet, die Blicke der Figuren aufeinander auffängt, Beziehungen stiftet und selbst zum Teilnehmer des Geschehens wird.

Punk als Aufleuchten jenes Freiheitsdrangs, der sich bald auch politisch manifestierte
Heute sind die Punkrock-Gruppen „Zoopark“ und „Kino“ Musiklegenden, Anfang der 1980er-Jahre waren sie der erste Vorschein einer anderen Zukunft, die unter den Begriffen „Glasnost“ und „Perestroijka“ bald auch den Westen verzauberte und für die neuen liberalen Seiten der Sowjetkultur einnahm. „Leto“ erzählt diese Geschichte vom Herbst des sowjetischen Jahrhunderts und von einem frühlingshaften Aufbruch unter den Leningrader Jugendlichen. Während die UdSSR gerade in Afghanistan einmarschiert, entdeckt ein Dutzend 20-Jähriger New Wave und Punk, von den Stones bis Police, von Bowie bis Blondie. Das System weiß, dass es mit purer Repression hier nicht mehr weit kommt, dass es Popkultur, neuartige Bands und deren Auftritte dulden muss, solange keine „Dekadenz“ droht und politische Linientreue garantiert ist; denn „sowjetische Musiker müssen das Gute im Menschen finden“. Inmitten dieses kulturellen Tauwetters platziert der Film seine Figuren.
Die Handlung basiert auf einer autobiografischen Vorlage von Natalia Naumenko, dem realen Vorbild von Natascha: eine ebenso intelligente wie charmante junge Frau in der Mitte einer Dreiecksbeziehung zwischen Maik und Viktor, dem Sänger der Gruppe „Kino“. Diese Dreiecksliebesgeschichte sorgt neben der Musik für emotionale Dynamik, doch unter dem Glück des Aufbruchs junger Menschen lauern Melancholie und tiefe Verzweiflung. Die drei Hauptfiguren werden sehr gleichberechtigt behandelt. Viktor ist der Rätselhafte, Natascha die Kluge, Gelassen-Skeptische. Maik hat die schönsten Drehbuchsätze, und er ist der Großzügigste: Er schenkt Namen, Ideen, Songs, Studioverträge, und er rettet mit seinem Charisma die missglückte Performance eines Freundes. Er verhilft Viktor sogar zu einem Rendezvous mit Natascha, obwohl der der Rivale ist – und genau wegen dieser Großzügigkeit wird sich Natascha am Ende für ihn entscheiden.

Kirill Serebrennikov als neue Stimme des russischen Gegenwartskinos
Regie führt Kirill Serebrennikov, der mit diesem Film zur neuen Stimme im russischen Gegenwartskino werden könnte. Im Gegensatz zu früheren Zeiten liegt das russische Kino darnieder. Nikita Michalkow ist an der Seite von Wladimir Putin in die Politik gegangen, die anderen der alten, noch sowjetisch geprägten Generation sind weitgehend von der internationalen Bühne verschwunden: Alexander Sokurow, Sergej Bodrow und Andrej Kontschalowski bringen alle paar Jahre einen neuen, meist mit europäischen Fördergeldern finanzierten Film heraus. Unter den Mittfünfzigjährigen bleibt Andrey Zvyagintsev ein Solitär. Der 1969 geborene Serebrennikov, der zurzeit unter Hausarrest und vor Gericht steht, ist trotz einiger früherer Filme wie dem auffälligen, wenngleich auch noch recht schematischen „Der die Zeichen liest" eher ein unbeschriebenes Blatt und bislang hauptsächlich von der Bühne bekannt. Mit „Leto“ gelingt ihm nun der internationale Durchbruch.
Verdientermaßen. Denn der Film ist großes Kino, das viele Elemente verbindet und in Form einer privaten Geschichte das Bild einer ganzen Gesellschaft entfaltet. Dabei begeistert vor allem die Inszenierung. Ein Schwarz-weiß-Film, unterbrochen von Farbeinsprengseln und Animationselementen. Figuren sprechen in die Kamera und reißen so immer wieder die Barrieren der „vierten Wand“ ein. Die Montage ist schnell und dynamisch, geprägt von der mitreißenden New-Wave-Musik von „Zoopark“ und „Kino“. Manche der Songs sind „gecoverte“ Post-Punk-Stücke aus dem Westen, von Talking Heads, Lou Reed, Iggy Pop oder David Bowie. Insgesamt ist die Inszenierung anspielungsreich, fantasievoll und vereint auch auf der Tonspur viele parallele Ebenen zum virtuosen Bewegungskino.
„Leto“ steckt dabei zugleich voller Romantik, die der jungen Jahre und einer analogen Welt. Ein Film, dessen Form wie seine Figuren und die Handlung universal sind und weit über das postsowjetische Aufarbeitungskino hinausweist. Der Vergleich mit François Truffauts "Jules und Jim" drängt sich auf. „Leto“ ist sein russischer Cousin. Wie Truffaut blickt Serebrennikov in eine verlorene, keineswegs verklärte Zeit zurück. Zugleich dementieren beide Filme aber auch jeden anti-utopischen Pessimismus: Serebrennikov zeigt schöne Menschen, die schöne Dinge machen, er zeigt Freiheit, Musik und Liebe als Quelle von Glück und einen großzügigen Umgang der Menschen untereinander. So gelingt ihm ein mitreißender Musikfilm und vielleicht der beste Film des Jahres.
        
Rüdiger Suchsland, Filmdienst
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