Leviathan: Kritik
Filmbeschreibungen
Die Quintessenz von „Leviathan“ ist simpel: Ein kleiner Mann lehnt sich
gegen ein riesiges Machtkonstrukt auf. In den atemberaubenden Bildern
des Kameramanns Michail Kritschman und mit narrativen wie filmischen
Details fächern Regisseur Andrey Zvyagintsev und sein Co-Autor Oleg
Negin durch teils recht bissige Andeutungen den simplen Plot auf und
geben ihm eine beängstigende Tiefenschärfe.
Im Zentrum steht Kolya, ein auf den ersten Blick ehrlicher, aber schnell
aufbrausender Mann. Er lebt mit seiner Frau Lilya und seinem Sohn aus
erster Ehe in einem kleinen Küstenstädtchen an der Barentsee. Sein
markant über dem Wasser gelegenes Land befindet sich seit Generationen
im Besitz seiner Familie. Als der Bürgermeister, der unbedingt die
nächste Wahl gewinnen will, sich das Grundstück mit Hilfe einer
korrumpierten Justiz unter den Nagel reißen will, versucht sich Kolya
zunächst auf legalen Wegen dagegen zu wehren.
Bei näherer Betrachtung entpuppt sich Kolyas Figur als moderne
Hiob-Variante, die gleichsam von außen geprüft und in ihrem Glauben
herausgefordert wird. Im Gegensatz zur biblischen Gestalt zweifelt Kolya
aber weniger an Gott im religiösen Sinn. Er verliert sich auch nicht in
Selbstmitleid über die Ungerechtigkeit der Welt. Es geht vielmehr um
den Glauben und die Zweifel am Menschen und dem sozial konstruierten
Raum, in dem er lebt. Gleichzeitig verkörpert Kolya aber auch eine Art
Michael Kohlhaas, der aktiv gegen die Ungerechtigkeit der bestehenden
Gesetze ankämpft.
Von Anfang ist aber spürbar, wie unwahrscheinlich ein Erfolg der
Auflehnung gegen autoritäre und korrupte Staatsgewalten ist. Kolyas
Anwalt und Freund Dmitri begleitet ihn zu einer Anhörung ins Gericht.
Hier wird man Zeuge der Undurchdringbarkeit einer bestechlichen
Bürokratie: In einem nicht enden wollenden Monolog rattert die Richterin
monoton den Sachverhalt herunter. So fassungslos Kolya und die Seinen
im Gerichtssaal stehen, so statisch blickt die Kamera in ihre Gesichter.
Ein kurzer Schnitt auf den Flur macht deutlich, dass das Urteil längst
feststeht. Das ist der Beginn einer Abwärtsspirale, die kein Ende zu
finden scheint.
Michail Kritschmans überwältigende Bildgestaltung spiegelt das
Innenleben Kolyas und das seiner Nächsten, aber auch das rauhe
autoritäre Klima. Intime, nahe Einstellungen zeigen Privates und
Familiäres, während weite Bilder die Attacken des riesigen dunklen
Meeres gegen die karge, menschenarme, faszinierend-dramatische
Landschaft einfangen: der mythisch anmutende, aber sich real auswirkende
Leviathan verschlingt den gewöhnlichen Menschen. Die Einstellungen sind
häufig lang und weit, Nahaufnahmen aus der Natur zeigen riesige
Wal-Skelette, der Strand wirkt wie ein großer Friedhof. Eine
cineastische Allegorie der Hoffnungslosigkeit.
Auch auf inhaltlicher Ebene spiegelt sich die Aussichtslosigkeit des
Aufbegehren gegen den Leviathan, das alles verschlingende Ungeheuer des
staatlichen Systems, wenngleich der Film zahllose bissige Spitzen
abfeuert. Und zwar gegen jenes opportune System, das sich das Prinzip
der natürlichen Auslese als unerträgliches soziales Selektionsprinzip
zunutze macht. So schießen Kolya und seine Freunde bei einem Ausflug nur
auf Porträtbilder ehemaliger russischer Politiker; für aktuelle
Amtsinhaber, so ein Freund Kolyas, sei es noch zu früh. Auch wenn weder
Putin noch Medwedjew als Zielscheiben dienen, handelt es sich um mehr
als eine Metapher: politische Aussagen werden sichtbar. In einer anderen
Szene berichtet das Fernsehen im Hintergrund über die
regierungskritische Band „Pussy Riot“. Und immer wieder versichert sich
der Bürgermeister der Gunst und Protektion der einflussreichen
russisch-orthodoxen Kirche.
Der Film spricht in diesen kritischen Bezügen für sich und bietet
darüber hinaus pointierte politisch-kulturelle Interpretationsansätze.
So universell die Geschichte über Auflehnung gegen Ungerechtigkeit auch
ist, so sehr ist „Leviathan“ ein Kommentar zur aktuellen russischen
Gesellschaft und dem politischen System. Der Regisseurs und die anderen
Beteiligten am Film halten sich mit politischen Wortmeldungen auffällig
zurück. Nicht zuletzt die abneigende Reaktionen der Kulturbürokratie
(mitsamt zensorischen Drohungen) deuten aber darauf hin, dass der Film
einen elementaren Nerv getroffen hat. Am Ende ist „Leviathan“ vielleicht
kein Hoffnungsträger, aber eine rare cineastische Momentaufnahme, ein
ästhetisches und politisches Statement.
Jennifer Normann, filmdienst