Es beginnt in angedeuteter Zeitlupe mit einem beschriebenen Blatt
Papier, das langsam zu Boden gleitet, während eine junge Frau im stummen
Schrei verharrt. Sie begreift in diesem Moment, dass sie als Geliebte
oder Ehefrau, also als Anhängsel eines Mannes, kein selbstbestimmtes,
gleichberechtigtes Leben führen wird. Die Rede ist von Lou
Andreas-Salomé (1861-1937), Schriftstellerin, Philosophin und
Psychoanalytikerin, eine der gelehrtesten Frauen ihrer Zeit, befreundet
mit Nietzsche, Freud und Rilke, im regen Austausch mit bekannten
Dramatikern. Eine kämpferische Frau, die für sich Freiheit und
Unabhängigkeit in Anspruch nahm. Und das Recht auf Bildung und Denken.
Die
von Cordula Kablitz-Post inszenierte Filmbiografie wird von einer
Rahmenhandlung angestoßen, die den Film interpunktiert und strukturiert.
Ein junger Germanist, Ernst Pfeiffer, besucht 1933, also während der
Nazi-Zeit, Lou Andreas-Salomé in Göttingen, wo sie in einem großen alten
Haus wohnt. Schnell entsteht die Idee, dass er die Lebenserinnerungen
der alten, sehschwachen Frau aufschreiben könne. Und so beginnt sie zu
erzählen. Als Tochter eines russischen Generals wächst sie in St.
Petersburg auf – und fühlt sich unter fünf Brüdern stets benachteiligt.
Gegen den Willen der konservativ-strengen Mutter zieht sie nach Zürich,
um an der einzigen europäischen Universität, an der Frauen zugelassen
sind, Theologie, Philosophie, Philologie und Kunstgeschichte zu
studieren – ihr Wissensdurst ist unersättlich. Aus gesundheitlichen
Gründen geht sie nach Rom. Hier lernt sie die Philosophen Paul Rée und
Friedrich Nietzsche kennen. Beide machen ihr Heiratsanträge –
vergeblich. Berühmt ist jenes Foto, dass während eines Ausflugs in einem
Studio in Oberitalien entstand und im Film nachgestellt wird: Die
Männer lassen sich vor einen Karren spannen, Lou schwingt antreibend die
Peitsche. Aus Vernunftgründen geht sie eine Scheinehe mit dem 15 Jahre
älteren Orientalisten Friedrich Carl Andreas ein. Später dann die
Bekanntschaft mit René Maria Rilke, dem sie, welch schöne Anekdote,
einfach einen neuen Vornamen verpasst. Rilke umwirbt sie mit
wundervollen Gedichten; zum ersten Mal lässt sie sich auf eine Affäre
ein, zu der auch die körperliche Liebe gehört, der sie zuvor
abgeschworen hatte.
Zu den überzeugenden Ideen des Films zählt
es, den einzelnen Lebensstationen eine alte Postkartenansicht
voranzustellen. Lou Salomé läuft durch die zweidimensionale Abbildung
(so wie Vincent van Goghs Gemälde in „Akira Kurosawas Träume“ (fd 28 317)
schon „begehbar“ waren) und eignet sich den Schauplatz erobernd an –
eine moderne Frau in historischer Kulisse: Sie ist ihrer Zeit voraus.
Katharina Lorenz verkörpert sie in eine Mischung aus Stärke und
Sprödigkeit, Warmherzigkeit und Verletzlichkeit, Leidenschaftlichkeit
und Naivität und vermittelt so glaubwürdig die Faszination, die sie auf
die Männer ausübt. Die wirken mit ihrem vergeblichen Werben um
Aufmerksamkeit, Heirat oder Sex allerdings mitunter höchst lächerlich.
Besonders für Alexander Scheer sind die Fußstapfen von Friedrich
Nietzsche erheblich zu groß. Die Absicht, dem Philosophen Lebensfreude
und Begehren zu unterstellen, in Ehren, doch ein viel zu langer
Schnäuzer und übertriebene Gesten kommen eher Mimikry und Karikatur denn
einer authentischen Verkörperung gleich.
Die Regisseurin
Kablitz-Post, die mit Filmbiografien von Mickey Rourke über Helmut
Berger bis Nina Hagen einschlägige Erfahrungen besitzt, musste bei den
zahlreichen Fakten und Begegnungen auswählen. Andreas-Salomés
Bekanntschaften mit Strindberg, Hauptmann, Wedekind oder Schnitzler
bleiben ausgespart, andere Begebenheiten, das Bad im See mit Nietzsche
zum Beispiel, sind Erfindungen, die die Figuren aber stets näher
bestimmen. „Seit wann enthalten Biografien die ungeschönte Wahrheit?“,
lässt Kablitz-Post ihre Titelheldin fragen, fast so, als wolle sie den
Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Fakt ist: Lou Andreas-Salomé
hat ihrem Biografen nur das erzählt, was ihr genehm war. Sie hat die
öffentliche Wahrnehmung ihres Lebens gezielt gelenkt. Auch damit war sie
ihrer Zeit weit voraus.
Michael Ranze, FILMDIENST 2016/13