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Manchester by the Sea: Kritik

Filmbeschreibungen


Das erste Bild zeigt einen Mann und einen Jungen. Beide sitzen am Ende  eines nach hinten offenen Boots und angeln. Noch kann man nicht  einordnen, wer sie sind, welche Funktionen sie innerhalb der Erzählung  übernehmen werden. Eine Idylle, so scheint es zunächst. Doch sie steht  in starkem Kontrast zu der Geschichte, die sich nun in mehreren  Schichten entfaltet. Im Mittelpunkt: Lee Chandler, ein schweigsamer,  unfreundlicher Einzelgänger, der als Hausmeister einen Wohnblock im  winterlichen Boston betreut. In einer kurzen Szenenfolge macht Regisseur  Kenneth Lonergan, der mit „Manchester by the Sea“ seinen dritten Film  nach „You Can Count on Me“ (fd 34 807) und „Margaret“ (2011)  inszenierte, deutlich, was das bedeutet: verstopfte Toiletten reinigen,  Schnee schippen, Wände streichen. Eines Abends provoziert Lee  unvermittelt in einer Bar eine Schlägerei. Unverantwortlicher Mistkerl  oder zutiefst verletzter Mann, der nur noch die Hülle seiner selbst ist  und sich selbst bestrafen will? Da erreicht Lee die Nachricht, dass sein  Bruder Joe einen Herzanfall erlitten hat und bald sterben wird. Lee  muss die Vormundschaft für seinen 16-jährigen Neffen Patrick übernehmen,  und so kehrt er widerwillig in seine alte Heimatstadt  Manchester-by-the-Sea zurück.  Alte Wunden reißen auf, und man ahnt, dass Lee der Situation nicht  gewachsen ist. Zwangsläufig kommt es zum Wiedersehen mit seiner Ex-Frau  Randi. Nicht zu vergessen Patricks Mutter Elise, deren Verschwinden Lee  erst in die Verantwortung für seinen Neffen zwingt. Rückblenden in die  Vergangenheit, die durch ihre Gleichgewichtung den Charakter einer  Parallelhandlung annehmen, offenbaren allmählich die ganze Tragik,  Verletztheit und Schuld der Hauptfigur und erklären das Scheitern der  Ehe mit Randi, die einmal chaotisch, aber auch glücklich begann.  Lonergan hat seine Geschichte klug und komplex aufgebaut, fast schon  pointilistisch streut er einzelne Informationen ins dramaturgische  Gerüst und bringt es damit leicht zum Zittern. Informationen, deren  Bedeutung sich erst sehr viel später erschließt. Man muss darum  besonders in der ersten Stunde wie bei einem Puzzle die Teilchen  zusammensetzen, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Was bewirkt,  dass die Figuren und die Situationen gefangen nehmen und großes  Interesse auslösen: Was ist ihr Geheimnis? Welches Ereignis hat sie so  sehr verändert? Und, wichtiger noch: Wie wird sich der Konflikt lösen?  Fragen, die die innere Spannung des Films ausmachen.  Wie die Charaktere mit der Tragödie, die der eigentlichen Filmhandlung  vorausgegangen ist, umgehen und sich zueinander verhalten, ist sowohl  emotional als auch psychologisch auf den Punkt getroffen. Das  Hauptgewicht liegt dabei auf der Beziehung zwischen Lee und Patrick.  Während der Junge sich mit seiner hedonistischen Ruppigkeit im Charakter  seines Onkels zu spiegeln scheint, ringt Lee mit seiner Rolle als  möglicher Vormund. Das macht aus „Manchester by the Sea“ vor allem einen  großen Schauspielerfilm: Selten sah man Casey Affleck so konzentriert,  intensiv und vielschichtig wie hier. Seine Unentschiedenheit, sein  irritierendes Verhalten, die Abwehr, mit der er auf seine Umwelt  reagiert – mit jeder Geste, jeder Bewegung, jedem Wort fängt er die  Misere und Verzweiflung seiner Figur ein. Michelle Williams als Ex-Frau  hingegen sorgt gegen Ende mit dem Versuch, die Vergangenheit mit der  Gegenwart zu versöhnen, für die ergreifendste Szene des Films. Die  Trauer ihrer Figur steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben – und das  ist schlicht großartig gespielt.  Interessant ist auch das Setting: Manchester-by-the-Sea ist eine kleine  Küstengemeinde, in der jeder jeden kennt und die Erinnerung wie  selbstverständlich wachgehalten wird. Den Umgang miteinander erleichtert  das allerdings nicht. Der graue Himmel, die Kälte und der Schnee  unterstreichen die tiefe Verletztheit der Menschen. Hier, in dieser  rauen Natur, ist es nicht einfach, den Schmerz der Vergangenheit  abzuschütteln und ein neues Leben zu beginnen.
Michael Ranze, Filmdienst
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