Toni Erdmann: Kritik - K50 neue Website

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Filmbeschreibungen


Kein Film wird im luftleeren Raum beurteilt. Immer spielen Erwartungen  und Kontexte eine wichtige Rolle. Das gilt für „Toni Erdmann“ in  besonderem Maße. Weil es sieben Jahre gedauert hat, bis Maren Ade den  Nachfolger ihres Silberner-Bär-Gewinners „Alle anderen“ (fd 39 348)  präsentiert hat, weil „Toni Erdmann“ der erste deutsche Film im  Wettbewerb von Cannes seit acht Jahren war, weil er überdies von einer  Filmemacherin stammt, was beim wichtigsten Festival der Welt ebenfalls  ungewöhnlich ist.

Umso schöner, dass der Film unter all der  Repräsentationslast nicht zusammengebrochen ist: „Toni Erdmann“ mag in  Cannes zwar keinen Preis gewonnen haben, aber dafür Herzen. Er wurde  sowohl vom Publikum als auch den Kritikern begeistert aufgenommen, zwei  Zuschauergruppen, die bekanntlich nicht immer übereinstimmen.

Dass  „Toni Erdmann“ trotz seiner 162 Minuten Länge auch Potenzial als  Publikumsrenner hat, hebt ihn zusätzlich heraus. Die Möglichkeit zum  Crossover-Hit liegt gewissermaßen in der DNA des Films begründet.  Verbinden seine Figurenkonstellation und die Grundzüge des Plots doch  zwei populäre Narrative: Da ist zum einen die universelle Geschichte der  Aussöhnung in einer Familie – hier zwischen Vater und Tochter –, und  zum anderen das Aufeinandertreffen eines männlichen „Losers“ und einer  weiblichen Figur, die auf verbissene Weise am gesellschaftlichen Status  orientiert ist – eine beliebte Situation aus den Produktionen von Judd  Apatow und anderer US-Komödien der letzten Jahre.

Das Genie von  Maren Ade liegt darin, wie sie diese Zutaten abwandelt und auf  unvorhersehbare Weise in ihren eigenen Kosmos überführt. Aus den jungen  Loser-Typen der US-Filme macht sie den Alt-68er-Musiklehrer Winfried,  der gerade seinen letzten Schüler verloren hat und seine Umgebung mit  ständigen Streichen und Scherzen nervt. Seine Tochter Ines ist eine  ehrgeizige Unternehmensberaterin, die wenig Verständnis für den  entspannten Lebensstil ihres Vaters aufbringt. Als Winfried seine  Tochter in Bukarest besucht, wo sie gerade arbeitet, ist er von ihrem  freudlosen, einzig um die Arbeit kreisenden Leben entsetzt. Auftritt:  Toni Erdmann, Winfrieds Alter Ego. Mit zotteliger Perücke, schäbigem  Anzug und falschen Zähnen versucht er als angeblicher „Lebenscoach“ Ines  aus der Reserve zu locken. Es ist klar, dass es zu irgendeiner Art von  Annäherung von Vater und Tochter kommen wird, doch die Inszenierung  vermeidet Aussöhnungskitsch oder eine abgeschlossene Erzählung.  Stattdessen nimmt der Plot immer wieder überraschende Wendungen.

Die  39-jährige Regisseurin erzählt von einem umgekehrten  Generationenkonflikt: Hier sind es nicht die Jungen, die gegen die  verknöchert-verspießerten Alten aufbegehren, sondern es ist die  „goldene“ bundesdeutsche Nachkriegsgeneration, die den im globalisierten  Verdrängungswettkampf gestählten Kindern rät, sich mal locker zu  machen. Diese Art der Umkehrung hat es in den letzten Jahren auch in der  amerikanischen Komödie öfters gegeben, zuletzt etwa in „Ricki“ (fd 43 300)  mit Meryl Streep. Während dort die Alten aber gewöhnlich nur lernen  müssen, weniger selbstbezogen zu sein, und die Jungen, mehr Toleranz zu  üben, ist das Verhältnis der Generationen bei Maren Ade verwickelter.  Hinter „Toni Erdmann“ steht auch die Frage, inwiefern Ines und ihr Vater  nicht zwei Seiten derselben Medaille sind. Inwiefern die Karrierefrau  zugleich die Werte verkörpert und pervertiert, die ihr von ihrem Vater  vermittelt wurden: Selbstbestimmtheit, Selbstbewusstsein und  Kreativität. Überspitzt formuliert lässt sich fragen: Hat Ines aus  Winfrieds Freiheit des Lebensentwurfs die Freiheit des Kapitals gemacht,  die ihr jetzt hilft, sich im ex-kommunistischen Südosteuropa  durchzusetzen?

Dass sich im Windschatten des Neoliberalismus eine  egalitäre Meritokratie etablieren könnte, mag dabei zwar Ines Hoffnung  sein, doch der Film zeigt deutlich, wie ältere Hierarchien in der  Realität weiter wirkmächtig sind: etwa wenn sie von einem Auftraggeber  dazu verdonnert wird, mit seiner jungen, hübschen Frau shoppen zu gehen.  Oder wenn Ines merkt, dass sie ernster genommen wird, weil ihr Vater  dabei ist, so seltsam der sich auch aufführen mag. Ines hat völlig  verinnerlicht, dass sie sich wie die Männer um sie herum verhalten muss,  um vorwärtszukommen: „Ich bin keine Feministin, sonst würde ich Typen  wie dich nicht tolerieren“, erklärt sie ihrem Chef ohne Anflug von  Ironie.

„Toni Erdmann“ erzählt also nicht nur eine  Vater-Tochter-Geschichte, sondern es geht auch um den (post)modernen  Kapitalismus, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in Europa und um  Sexismus in der Arbeitswelt. Die thematische Spannbreite wirkt dabei  niemals forciert, ebenso wie die schwierigen Tonwechsel zwischen Komik,  Tragik und surrealen Momenten immer gelingen. Das liegt nicht zuletzt  daran, dass Maren Ade ihren dritten Spielfilm sicher in den beiden  Hauptfiguren verankert, für die sie zwei herausragende Darsteller  gefunden hat. Sandra Hüller gibt Ines eine Fassade stählerner  Entschlossenheit, hinter der aber jeden Moment der Nervenzusammenbruch  droht. Peter Simonischek meistert die noch schwerere Aufgabe, zu  spielen, wie seine Figur (amateurhaft) jemand anderen spielt.

Für  das Gelingen des Films sind aber nicht nur das Skript und die beiden  Darsteller entscheidend, sondern auch die völlig auf sie ausgerichtete  Form. Sie hält „Toni Erdmann“ zusammen. Schon mit der ersten betont  unspektakulären Einstellung auf eine deutsche Durchschnittshaustür und  Wertstoff-Tonnen machen Ade und ihr Kameramann Patrick Orth klar, dass  die Bildebene hier nicht auf sich selbst aufmerksam machen soll, sondern  ganz den Figuren und der Geschichte dient. Orths Handkamera reagiert  flexibel auf die Schauspieler, wird aber niemals selber als „Effekt“  eingesetzt, der beispielsweise besondere Authentizität suggerieren soll.

Vielleicht  ist das der einzige Kritikpunkt: Dass „Toni Erdmann“ der typisch  deutschen Formfeindlichkeit nicht entkommt, sondern sich im Rahmen des  von den Förderanstalten so bevorzugten, auf Drehbuch, Handwerk und  Schauspiel fixierten „mittleren“ Realismus bewegt. Um auf die  Erwartungshaltung und die Repräsentationslast zurückzukommen: „Toni  Erdmann“ rettet das deutsche Kino nicht. Er ist einfach ein sehr guter  Film einer sehr talentierten Filmemacherin.

Sven von Reden, FILMDIENST 2016/14    

 
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