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Tschick: Kritik

Filmbeschreibungen

„Landkarten sind für Muschis“, sagt der Junge mit dem runden Gesicht und der Irokesen-Frisur. Sein langhaariger Mitfahrer ist eher skeptisch. Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden 14-Jährigen mit dem geklauten Lada schon längst unterwegs. Ihr Ziel ist die Walachei. Zum Umkehren ist es zu spät. Tschick und Maik sind Verbündete wider Willen. Als „Asi“ gilt der eine, weil er oft angetrunken in die Schule kommt und recht verwahrlost wirkt, als „Psycho“ der andere, weil seine Mutter den Urlaub regelmäßig auf einer Beautyfarm verbringt – so nennt die Alkoholikerin die Entzugsklinik. Was beide Jungs verbindet, ist die Ablehnung der anderen. Auf die Partys bei den schönsten Mädchen der Klasse sind Tschick und Maik nie eingeladen. Jetzt müssen sie ihren eigenen Weg finden, um in den Sommerferien aus dem Alltag auszubrechen und auf eigene Faust etwas zu erleben. Der Lada ist dafür das geeignete Transportmittel. Wolfgang Herrndorfs gleichnamiger Jugendroman ist eine Steilvorlage für eine Verfilmung, ein literarisches Road Movie mit skurrilen Zügen, das zwei Außenseiter von Berlin-Marzahn durch die ostdeutsche Provinz führt, von Freundschaft und Träumen und vom Aufbruch ins große Ungewisse erzählt. Eine Hürde ist dabei die kompromisslose Innensicht des Romans. Die Erzählung lebt davon, dass sie aus Maiks Perspektive geschrieben ist, ungekünstelt und sehr echt, manchmal rotzig, manchmal philosophisch. Es dauert ein wenig, bis Fatih Akin sich freigeschwommen hat und Bilder für Herrndorfs Sprache findet. Vor allem die ersten Szenen des Films – mit Ausnahme des knappen Intros, das wie im Roman das Ende vorwegnimmt – kleben durch Maiks Voice-Over-Kommentar noch eng an der Vorlage. Filmisch eleganter wird es, wenn der Film Maiks Gefühle in Bildern ausdrückt. Wenn er etwa auf das Mädchen seiner Träume zuzuschweben scheint oder auf die erschreckend junge und aggressiv aufreizende Assistentin seines Vaters mit einer blutigen Gewaltfantasie reagiert. Mit dem Aufbruch der beiden Jungs findet auch die Inszenierung zu größerer Freiheit. Das drückt sich insbesondere auch im Soundtrack aus. Ist die alte Richard-Clayderman-Kassette, die Maik im Handschuhfach des Lada gefunden hat, erst einmal Bandsalat, begleiten K.I.Z., Seeed und Bilderbuch die Jungs durch die ostdeutsche Provinz. „Hurra die Welt geht unter“, „Goosebumps“ oder „Willkommen im Dschungel“ lauten die Titel der Tracks und füllen die Geschichte der jugendlichen Ausreißer mit ganz eigenem Leben. Sie sind das Mixtape eines Sommers zwischen Untergang, Abenteuer und Neubeginn. Nach einigen schweren Dramen knüpft Akin mit „Tschick“ wieder an die Leichtigkeit von „Im Juli“ (fd 34 408) an, in dem Moritz Bleibtreu und Christiane Paul einmal bekifft und schwerelos über dem Boden schwebten. Tschick und Maik brauchen dazu keine Drogen. Die Magie des Alltags finden sie in einer wilden Fahrt durchs Maisfeld, im köstlichen Essen bei einer Öko-Mutter mit Harry-Potter-affiner Rasselbande, beim Campen unter Windrädern, in denen die Außerirdischen ganz nah sind. Als Maik auf einem Schrottplatz die verwahrloste Isa kennenlernt, kommt an einem Stausee sogar so etwas wie erste Liebe ins Spiel. Schön ist es, wie diese Schauplätze gegen den Strich gebürstet werden. Wichtig ist nicht, dass sie besonders sind, sondern dass sie von Tschick und Maik so empfunden werden. Überhaupt ist es das Hier und Jetzt, um das es immer geht. Allzuviel über die familiären Hintergründe und den biografischen Ballast der Haupt- und Nebenfiguren erfährt man nicht, weder über den russischen Spätaussiedler Tschick, dessen Familiengeschichte wohl Stoff für ein krasses Drama geboten hätte, noch über Isa, die die rätselhafteste Figur bleibt. Am meisten erzählt der Film noch über Maik – und dekonstruiert dabei lustvoll die Einfamilienhaus-mit-Pool-Fassade. Wo Herrndorf Episode auf Episode reiht, nimmt das Drehbuch von Lars Hubrich, Fatih Akin und Hark Bohm kluge Abkürzungen, lässt manche der teils märchenhaft-überhöhten oder skurrilen Begegnungen aus und verdichtet andere. Mit rund 90 Minuten ist der Film überraschend kurz ausgefallen, dafür aber auch kurzweilig und nicht redundant. Das Gefühl, dass zwei Jungen eine ganz besondere Reise hinter sich gebracht haben und zumindest Maik am Ende als anderer Mensch zurück in die Schule kommt, trifft Akin auf den Punkt. Und findet im Abspann noch eine schöne filmische Form, um in einer Animationssequenz eine Lücke zu schließen.
Stefan Stiletto, filmdienst  
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