Unsere kleine Schwester: Kritik - K50 neue Website

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Filmbeschreibungen


 
„Große Lust habe ich nicht auf die Veranstaltung“, sagt Yoshino  beiläufig zu ihrer Schwester Chika. Sie sind mit dem Zug auf dem Weg  nach Yamagata. Sie lachen, essen und versuchen sich zu erinnern, wie  meistens, wenn sie zusammen sind. An ihren Vater, zu dessen Beerdigung  sie fahren.

15 Jahre lang haben Yoshino, Chika und ihre ältere  Schwester Sachi ihren Vater nicht gesehen und auch keinen Kontakt zu ihm  gehabt. Vage wissen sie, dass er zuletzt mit seiner dritten Frau gelebt  haben muss. Aber dass die drei jungen Frauen noch eine 14-jährige  Halbschwester haben: das ist neu für sie. Freundlich werden sie von Suzu  in Yamagata empfangen, und schnell wird deutlich, dass Suzu ihren Vater  in den letzten Monaten gepflegt hat. Beim Abschied fragt Sachi spontan,  ob Suzu nicht bei ihnen leben wolle, in dem großen alten Haus, in dem  sie seit dem Umzug ihrer Mutter alleine leben. Und Suzu sagt ja.
So  finden sie in dem gewohnt ruhig erzählten Familien- und Frauenfilm von  Hirokazu Kore-eda zusammen, die älteren Schwestern, die sich erst von  ihrem Vater und später auch von ihrer Mutter im Stich gelassen fühlen,  und die noch jugendliche Schwester, die ihren Vater liebte, aber wütend  auf ihre Mutter ist.

Schon in Kore-edas „Nobody Knows“ (fd 36 980)  ging es um abwesende Eltern. Doch während dieses erschütternde Drama um  mehrere Kinder die existenziellen Folgen beschrieb, als sie von ihrer  Mutter ohne Ankündigung allein in der Wohnung zurückgelassen werden und  urplötzlich auf sich selbst gestellt sind, erzählt „Unsere kleine  Schwester“ erstaunlich versöhnlich von den Fehlern der Eltern und deren  Auswirkungen auf die Kinder.
Die Kindheit sei ihnen von den  Erwachsenen genommen worden, heißt es einmal. Nun müssten sie sich diese  wieder zurückholen. Trotzdem führt der Weg der Geschwister nicht  zurück, sondern nach vorne. Das Mysterium des verantwortungslosen Vaters  wird nach und nach entzaubert. Aus der Sichtweise von Suzu erscheint  dieser plötzlich nicht mehr nur als verantwortungsloser Lebemann – und  für die älteren Geschwister wird Suzu zu einem Geschenk.
„Umimachi  Diary“, zu deutsch „Tagebuch einer kleinen Küstenstadt“, lautet der  Titel der Manga-Vorlage von Akimi Yoshida, die sich insbesondere an  junge Frauen richtet. Der mit langem Atem erzählte japanische Comic legt  dabei viel Wert auf Figurenentwicklung und genaue Beobachtungen. Diese  Erzählweise trifft auch auf Kore-eda zu. Unaufgeregt folgt er den  Schwestern über mehrere Monate und beobachtet, wie sich ihre Beziehungen  im Laufe der Jahreszeiten verändern. In den Mittelpunkt rücken dabei  vor allem die älteste und die jüngste Schwester. Längst hat Sachi die  Rolle des Familienoberhaupts in der WG übernommen und ist zur  „Heimleiterin“ geworden, wie Yoshino einmal augenzwinkernd anmerkt.  Ungewollt ist sie in eine Mutterrolle geschlüpft und ähnelt ihrer  eigenen Mutter oft mehr, als ihr lieb ist. Zudem scheint sie auch selbst  in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, weil sie ein Verhältnis mit  einem verheirateten Mann hat. Suzu hingegen findet in den älteren  Schwestern eine neue Familie und ein Zuhause, das ihr mehr Geborgenheit  bietet, als sie bislang gewohnt war. Vor allem Sachi wird für sie zu  einer wichtigen Bezugsperson. Und irgendwann darf sie sogar deren  Sommerkimono tragen und ihre Größe am Türrahmen markieren, gleich neben  Sachi, Yoshino und Chika.

Anstatt großer dramatischer Wendepunkte  konzentriert sich die Inszenierung ganz auf das scheinbar  Nebensächliche, dessen Schönheit und Glück sichtbar wird: eine Fahrt mit  dem Fahrrad durch eine Allee voller Kirschbäume, deren Blüten in  betörend schönen Farben erstrahlen (und die im japanischen Kino doch  gleichzeitig auch immer auf die Vergänglichkeit und den Tod verweisen),  den Ausblick von einem hoch gelegenen Lieblingsort, ein Feuerwerk im  Garten oder einen Spaziergang am Strand. Die reduzierten Zeichnungen des  Mangas übersetzt Kore-edas Kameramann Mikiya Takimoto in stimmungsvolle  Bilder. Die sanften, weichen und fließenden Kamerabewegungen verleihen  dem Film eine lyrische Qualität, während das grobkörnige Filmmaterial  für eine fast schon nostalgische Tönung sorgt.

„Unsere kleine  Schwester“ kommt ohne die großen inneren Konflikte aus, die noch  Kore-edas Protagonisten in „Like Father, Like Son“ (fd 42 583) bei der Auseinandersetzung mit Eltern- und Kinderrollen auszutragen hatten. Wie in „Still Walking“ (fd 39 459)  spielt auch hier das gemeinsame Essen eine bedeutende Rolle, vom  Einkaufen über die Zubereitung bis zum gemeinsamen Verzehren. Beim Essen  trifft man sich, zu Hause und in der Bar, bei der netten alten Köchin,  die schon den Vater kannte. Beim Essen wird gelacht und geweint. Essen  ruft Erinnerungen hervor und verbindet die Gegenwart mit der  Vergangenheit, wenn der Geschmack des mit Fisch belegten Brots  Erinnerungen an den Vater weckt und der Jahr für Jahr selbst  hergestellte und sorgsam gehütete Pflaumenwein die an die Großmutter.

Der  feinfühlige Blick für das Alltägliche und die kleinen Gesten zeichnen  den Film aus, der durch seine leisen Töne berührt, von einer tiefen  Menschlichkeit getragen wird und in dem der Tod auch immer ganz nahe bei  den Lebenden steht.

Stefan Stiletto, FILMDIENST 2015/25    

 
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