20th Century Women: Kritik - K50 neue Website 2018

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20th Century Women: Kritik

Filmbeschreibungen


In seinem Film „Beginners“ (fd 40 500) versuchte Regisseur Mike Mills,  sich mit seinem Vaterbild auseinanderzusetzen. Diesmal ist es die  Mutter, die er in Dorothea, der Hauptfigur von „Jahrhundertfrauen“,  verlebendigt. Dorothea lebt in einem alten viktorianischen Haus, einem  wunderschönen, aber vernachlässigten Gebäude, an dem unaufhörlich  gehämmert und renoviert wird. Noch bevor die Story richtig begonnen hat,  ahnt man, dass dieses Haus nicht nur Herberge, sondern auch Symbol für  den Seelenzustand seiner Bewohner ist: Dorothea, ein Kind der  Depressionszeit, Kettenraucherin und späte Mutter, unmerklich  hineingewachsen in eine Zeit, in der Kinder Fragen stellen, die zu ihrer  eigenen Jugendzeit keiner über die Lippen gebracht hätte; Sohn Jamie,  noch mittendrin im Erkundungsdrang eines Teenagers, neugierig auf die  Welt draußen, in die ihn zwei Mitbewohnerinnen des großen Hauses  manchmal entführen; die rebellische Julie, die nachts über das Baugerüst  in Jamies Zimmer klettert, mit ihm kuschelt, aber den ersehnten Sex  verweigert; und die etwas ältere Abbie, eine an Krebs erkrankte  Fotografin, die Jamie mit Feminismus und Punk-Musik bekanntmacht. Dann  ist da noch William, der mit der Renovierung des Hauses ebenso wenig  fertig wird wie mit dem Vorsatz, sein Leben in geordnete Bahnen zu  lenken.  „Jahrhundertfrauen“ ist mehr ein Zustandsbild als eine abgeschlossene  Geschichte, was schon der Stil des Films klarmacht. Obwohl die Handlung  in dem von Hippies und ausgeflippten Frührentnern bevölkerten  Küstenstädtchen Santa Barbara während der 1970er-Jahre spielt, springt  Mills hemmungslos durch die amerikanische Geschichte und lässt sich über  die mannigfachen Beweggründe aus, die Menschen wie Dorothea, Jamie,  Julie, Abbie und William hervorgebracht haben. Er tut das mit viel Sinn  für Humor und immer wieder einem kurzen Innehalten, das dem Zuschauer  Gelegenheit gibt, seine eigenen Gedanken einzubringen.   Die Figuren seiner Story werden bis zum Ende kaum älter, gewinnen aber  von Szene zu Szene an Profil. Vor allem Dorothea nimmt Gestalt an: Aus  der zu Anfang etwas ungekämmten, unorientiert wirkenden Frau, die ihren  Sohn spät geboren hat und von der man nicht weiß, ob sie ihr  partnerloses Leben gewählt oder erlitten hat, wird eine Mutter, die ihre  Rolle, wohl nicht ohne gelegentliches Zögern, angenommen hat und mit  erfüllender Selbstbewusstheit lebt. Annette Bening, diese abseits allen  Starkults in Hollywood seit Jahrzehnten verehrte Schauspielerin, macht  aus Dorothea eine der schönsten Frauengestalten des zeitgenössischen  Filmschaffens. Es ist vor allem ihrer Darstellung zu verdanken, dass es  dem Film gelingt, sich ganz allmählich zu einer bewegenden Annäherung an  das Enigma des Mutterseins zu verdichten – und das, ohne seinen  lockeren und amüsanten Tonfall zu verlieren.
Franz Everschor, Filmdienst

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