Ida: Kritik - K50 neue Website

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Filmbeschreibungen


Der aus Polen stammende Regisseur Pawel Pawlikowski, der als Jugendlicher mit seinen Eltern in den Westen auswanderte und mit „Last Resort“ (fd 37 917) und „My Summer of Love“ (fd 37 113) zwei außerordentlich schöne Arbeiten in England drehte, kehrt mit dem fulminanten, mehrfach preisgekrönten Film „Ida“ in seine alte Heimat zurück. Er spielt in den frühen 1960er-Jahren, einer Zeit, in der die Wunden des Krieges, des Holocaust und der stalinistischen Ära noch überall zu sehen und zu spüren sind; die Hauptfiguren tragen entsprechend tiefe Narben. Es sind zwei Frauen, deren Schicksale Pawlikowski zum Anlass nimmt, um über die Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Dafür bringt er Elemente des Psychodramas, des Road Movies und der Detektivgeschichte zusammen, die sich zu einem starken Gesamteindruck vermengen. Stilistisch erinnert der Film sowohl an die streng stilisierten, karg ausgestatteten, religiös grundierten Kinodramen eines Carl Theodor Dreyer oder Robert Bresson als auch an das junge, aufgrund seines herben Realismus gern als „schwarz“ bezeichnete Kino der polnischen Neuen Welle um 1960. Der aus Bach, Mozart, John Coltrane und zeitgenössischem polnischen Jazz gespeiste Soundtrack verleiht „Ida“ zeittypische Authentizität und zugleich einen Hauch von Ewigkeit: musikalische Momente von Melancholie und Freiheit.
Pawlikowskis Film beginnt in den Mauern jenes Klosters, vor dessen Toren das Mädchen Anna als Kleinkind einst abgelegt worden war. Kurz vor der Weihe zur Nonne soll Anna ihre einzige noch lebende Verwandte, die Richterin Wanda, kennenlernen; so jedenfalls will es die Oberin. Aus dem abgezirkelten Tagesablauf des Klosters tritt das Mädchen in eine Gesellschaft, die ihr fremd ist; sie reist mit der Tante durchs Land, auf der Suche nach der eigenen Geschichte. Anna erfährt, dass sie eigentlich Ida Löwenstein heißt und jüdische Wurzeln hat. Sie erfährt von der Ermordung ihrer Eltern, vom Holocaust und von polnischen Antisemiten, die den deutschen Besatzern willfährig waren.
Agata Trzebuchowska spielt diese Ida, die nahezu stumm, fast engelsgleich, mit weit geöffneten Augen die Untiefen ihrer eigenen Vita zur Kenntnis nimmt. An ihrer Seite die kettenrauchende, trinkende Agata Kulesza als Tanta Wanda, die sich nach dem Krieg zu einer erbarmungslosen, von Hass getriebenen stalinistischen „Volksrichterin“ entwickelte und einem nahezu ungebremsten Hedonismus frönt. Die Inszenierung verzichtet darauf, diese ihrer Jugend beraubte, scheinbar gefühlsarme Figur als Schreckgespenst aus den finstersten Zeiten der Diktatur zu denunzieren. Ihre Härte, anderen und sich selbst gegenüber, resultiert aus der tragischen Biografie, dem Verlust des eigenen Kindes, der Verzweiflung über das scheinbar unausrottbare Böse im Menschen. Wanda, die es aufgegeben hat, auf ein wie auch immer geartetes Glück zu hoffen, ist eine differenziert gezeichnete, vielleicht sogar die spannendste Figur des Films: ein Novum im Blick auf die sonst eher pauschal der Verurteilung preisgegebene oder auch fratzenhaft verzeichnete realsozialistische Elite der Nachkriegszeit. Die dritte Hauptfigur ist ein junger, von Ort zu Ort ziehender Jazz-Saxofonist, der für eine von den Gespenstern der Vergangenheit unbelastete Generation, das neue Prinzip Freiheit, steht. Ida hat die Möglichkeit, ihm zu folgen – oder in die stille Welt des Klosters zurückzukehren.
Lukasz Zal und Ryszard Lenczewski haben „Ida“ in scharf konturiertem, grafischem Schwarz-Weiß fotografiert und betonen in ihren Bildstrukturen vor allem das Drückende der Innenräume, aber auch des tiefliegenden polnischen Winterhimmels. Ein Drama, das gerade auch wegen seiner inhaltlichen Offenheit, der nicht bis ins Detail auserzählten Fabel, lange nachwirkt.

Ralf Schenk, FILMDIENST 2014/8

 
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