Was für eine Geschichte! Hollywood hätte sie nicht besser
erfinden können. Vor mehr als 70 Jahren wechselte ein Baby in der chinesischen
Provinz mehrfach den Besitzer. Seine Adoptivmutter Ah Tao gab es nicht viel an
eine gut situierte Familie weiter, wo sie als Dienstmädchen beschäftigt ist.
Dort arbeitete sie aufopferungsvoll und voller Verantwortungsbewusstsein sechs
Jahrzehnte lang im Haushalt und zog dabei drei Generationen des Leung-Clans
groß. Inzwischen sind die meisten der Leungs über alle Kontinente verstreut und
Ah Tao lebt als ältester Teil der Familie in der nicht übermäßig opulenten
Stadtwohnung.
Denkt man an US-Filme wie Lee Daniels „Der Butler“, ahnt man, was aus solchen
wahren Geschichten werden kann, wenn sie fürs Kino adaptiert werden:
Überwältigungskino, mit mehr oder minder wichtigen (gesellschafts-)politischen
Botschaften und Darsteller-Performances, die sich in Selbstaufgabe üben und
fast dafür zwangläufig Auszeichnungen erhalten. Das einfache Leben als Hort
großer Gefühle; die große Tragik im kleinen Leid. Auch das asiatische Kino ist
sich der Kraft des Sentiments bewusst.
Aber nicht bei Ann Hui. Der Film beginnt schlicht und unaufgeregt mit einem
Gang Ah Taos über den Markt, der Suche nach einer Handvoll guten Knoblauchs und
dem fast wortlosen Darreichen des Mittagessens. Der Mittvierziger Roger ist der
letzte Unverheiratete, den es für Fräulein Jie (wie Ah Tao auch genannt wird)
noch zu verköstigen gilt. Als erfolgreicher Filmproduzent pendelt der zwischen
Peking und Hongkong und weiß die Fürsorge Ah Taos zu schätzen, ohne viel
Aufhebens darum zu machen.
„Tao Jie – Ein einfaches Leben“ ändert weder Erzähltempo noch Spannungskurve,
wenn Roger die 73-jährige eines Tages nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus
bringt, und Ah Tao in der Rekonvaleszenz beschließt, dass es nun an der Zeit
sei, kürzer zu treten und in einem Pflegeheim den letzten Abschnitt ihres
Lebens zu beginnen. Roger zeigt auch keine übermäßigen Gefühlsausbrüche, wenn
er wie selbstverständlich Ah Tao bei der Suche nach einem neuen Domizil
unterstützt; mit der alten Frau täglich etwas unternimmt und beobachtet, wie
sie langsam die Anonymität des Heims aufbricht und Kontakte knüpft.
Zunächst irritiert das formale Mittel der Entschleunigung. Man folgt der
Handlung und wartet unversehens auf dramatische Zuspitzungen, Vorhaltungen oder
Rückblenden in die harte Kindheit des Dienstmädchens – und auf den moralischen
Zeigefinger! Doch nichts von alledem passiert. Keine Apotheose der Gefühle,
keine großen Tränen. Eigentümlich berührt nimmt man zur Kenntnis, dass die
Inszenierung keine aufgebauschten Probleme oder Pathos sucht. Es gibt nur ein
einfaches, anstrengendes, erfülltes Leben! Hätte man im Vorspann nicht von der
Vorgeschichte Ah Taos erfahren, hätte Roger in der kurzen Rahmenhandlung nicht
aus dem Off erzählt, wie er zu seinem Kindermädchen steht – niemand hätte von
der aufwühlenden Vergangenheit erfahren.
Ann Hui ist eine Regisseurin, die sehr wohl um die Kraft des Sentiments und der
großen Gefühle weiß. Doch in dieser Geschichte kommen sie nur beiläufig vor:
ein wehmütig aufspielendes Klavier in der Filmmusik, eine kurze Sequenz, in der
Rogers Mutter wegen Ah Taos Krankheit aus den USA zu Besuch kommt und es zu
einer kleinen ergreifenden Begegnung zwischen den beiden älteren Damen kommt,
die sich ebenfalls schon ein Leben lang kennen.
Der bewusste Verzicht auf eine Moralisierung, Ann Huis Sicht auf diese
außergewöhnliche und doch so einfache Geschichte wirkt befreiend wie ein
„Reset“ in einem ansonsten von Emotionen verstopften Kino. Ah Taos
selbstverständliches Beschreiten ihres nicht selbst gewählten Lebensweges und
Rogers selbstverständliche Dankbarkeit und Zuneigung, exemplarisch für jene,
die von diesem Lebensweg profitiert haben, sind irritierend und anrührend
zugleich. Und so schreitet die Geschichte ihrem unweigerlichen, friedvollen
Ende entgegen.
Ganz beiläufig gibt Deannie Ip in der Rolle der Ah Tao eine große Performance
kleiner Details (und wurde dafür in Venedig mit dem Preis für die beste
Darstellerin ausgezeichnet); ganz beiläufig geben Stars des chinesischen Kinos
wie Anthony Wong, Mr. & Mrs. Raymond Chow, Tsui Hark oder Sammo Hung ein
Stelldichein und Andie Lau in der Rolle des Roger ein Paradebeispiel an
Understatement.
Ohne viel Aufhebens zu machen, verwandelt sich hier ein einfaches Leben in
präzise beobachtetes Kino. Mehr nicht. Was für eine Wohltat.
Jörg Gerle, FILMDIENST 2014/9