James
Ivorys Filme sind, was man in der Musik "Thema und Variationen" nennt.
Gleichgültig, ob in der alten oder in der neuen Welt angesiedelt, handeln sie
stets von Menschen als Erzeugnissen ihrer Zeit. Intime Psychologie und sozialer
Kommentar greifen in Ivorys Filmen so nahtlos ineinander, daß sie sich
gegenseitig bedingen, daß die Manifestation des einen die Wurzeln des anderen
ist. Je mehr Freiheiten ihm der wachsende Publikumserfolg seiner noch vor einem
Jahrzehnt (zumindest in den USA) als "elitär" empfundenen Filme
einräumt, um so konsequenter entwirft die Anthologie historischer Menschen- und
Si-tuationsbeschreibungen ein sich allmählich rundendes Panorama
angelsächsischer Kultur und Ethik.
Dem
Porträt zweier diametraler Familien im bourgeoisen England um die
Jahrhundertwende ("Wiedersehen in Howards End", fd 29 933) folgt nun
eine Geschichte individueller und gesellschaftlicher Verirrungen in Europa vor
Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es ist ein "Upstairs,
Downstairs"-Drama, das alle Voraussetzungen zu einer emotionalen
Beschreibung der bereits angekränkelten Zwei-Klassen-Gesellschaft mitbringt,
unter den Händen von Ivorys bewährter Autorin Ruth Prawer Jhabvala aber eine
ganz andere Richtung einschlägt. "Was vom Tage übrig blieb" handelt
von einem Butler, einer Hausdame und einem englischen Lord. Der Film beginnt
1958, als Grundbesitz und bewegliches Eigentum des inzwischen verstorbenen
Lords nur durch die sentimentale Anwandlung eines reichen Amerikaners vor dem
Ruin bewahrt bleiben. Mr. Stevens, der Butler, erinnert sich bei der Suche nach
verläßlichem Personal einer Miss Kenton, die ihm einst zu Zeiten Lord
Darlingtons als Hausdame zur Seite gestanden hat. Er hat noch (schriftlichen)
Kontakt zu ihr und macht sich auf, sie an der Westküste zu besuchen.
Die
Erinnerungen, die ihm ins Gedächtnis kommen, führen zurück in die Jahre der
sich zu Ende neigenden Blütezeit englischer Aristokratie, als Lord Darlington
sich noch als wohlmeinend-naiver Amateurpolitiker betätigen konnte, und Mr.
Stevens einem sorgsam gedrillten Reich von 17 Bediensteten vorstand. Butler in
einem aristokratischen Haushalt zu sein, war für Mr. Stevens der Gipfel des
Erstrebenswerten, eine Position, in deren vollkommener Erfüllung er für sich
selbst vollkommene Befriedigung fand. Privates Leben und eigene Gefühle hatten
sich der Pflicht unterzuordnen, selbst wenn es sich um den im Sterben liegenden
Vater handelte. Miss Kenton hingegen wäre nie so weit gegangen. Auch sie versah
ihren Dienst ohne den kleinsten Makel, aber sie wagte die Artikulation
individueller Empfindungen, wenn es ihr unvermeidbar an der Zeit schien. Mr.
Stevens sah sich in jenen bewegten Jahren häufiger durch das in seinen Augen
irritierende, wenn nicht gar unangemessene Verhalten der Hausdame beunruhigt
als durch die politischen Aktivitäten des Hausherrn. Der huldigte seit den
Tagen einer alten, durch frühen Tod beendeten Freundschaft einer fatal
undifferenzierten Zuneigung zu Deutschland. Blind für die Politik Hitlers,
machte er sich zum Vermittler zwischen dem Westen und der deutschen Regierung
und zum Exponenten jener Versöhnungsideologie, deren Opfer sogar der englische
Premierminister zeitweilig geworden war. Unerbittlich gegenüber der Wahrnehmung
persönlicher Gefühle, gestattete sich Mr. Stevens keine Aufmerksamkeit für die
Vorgänge im Haus, auch dann nicht, als ihm aufgetragen wurde, zwei deutschen
Hausmädchen, die gerade angestellt worden waren, wieder zu kündigen, weil sie
Jüdinnen waren.
Dieser
Butler, extremes Relikt einer aristokratischen Epoche, der auch 20 Jahre später
noch jedes Gefühl für die verwirrende Miss Kenton in sich begräbt und
versiegelt, könnte aus heutiger Sicht leicht als unzeitgemäße, sich selbst
überlebt habende Figur auf Distanz gewiesen werden, brächte nicht Anthony
Hopkins (im Zusammenspiel mit Emma Thompson) das Kunststück fertig, ihn als
mehr und mehr bewegende, ja tragische Gestalt erscheinen zu lassen. Diese in
jeder Situation, in jedem Ausdruck überzeugende Darstellung eines Menschen als
Produkt der Gesellschaft, in der er erzogen wurde, ermöglicht es Ivory, die
Schattenseite jenes aristokratischen Lebensstils aufzudecken, dessen äußere
Erscheinung so voller Eleganz und Harmonie war. Filme wie Scorseses "Zeit
der Unschuld" (fd 30 532) und Ivorys "Was vom Tage
übrig blieb", obgleich in historischer Ferne spielend, treffen einen
sensiblen Nerv des heutigen Publikums. Sie geben einerseits einem Verlangen
nach Schönheit und Ordnung nach, das längst die Sehnsucht nach dem
Nostalgischen verlassen hat und zu einem inneren Bedürfnis in einer Zeit der
Versachlichung und der wachsenden privaten Unsicherheit geworden ist, übersehen
andererseits aber nicht den Preis, den Menschen dafür zahlen mußten. Schönheit
und Schein liegen so dicht beisammen, daß es unmöglich ist, das eine vom
anderen zu trennen.
Es ist
diese Ambivalenz, die Ivorys Filme auch früher schon geprägt hat, die aber von
einem Film zum nächsten mit immer stärkerer Deutlichkeit zum Ausdruck kommt.
Daß seine Filme Team-Arbeiten sind, darf dabei nicht übersehen werden. Vor
allem die langjährige Verbundenheit mit Ruth Prawer Jhabvala hat zu einer immer
konsequenteren thematischen Verdichtung geführt, zu der die äußere Opulenz der
Bilder nur in scheinbarem Gegensatz steht. Als besonderer Glücksfall muß
diesmal die Besetzung mit Hopkins und Thompson angesehen werden, die beide
fähig sind, dieser Ivoryschen Ambivalenz darstellerischen Ausdruck zu geben,
ohne die Leinwand mit egoistischem Schauspielerkino zu usurpieren. Sie
übertreffen ihre Leistung in "Wiedersehen in Howards End" mit einem
noch mehr zurückgenommenen Spiel, das die amerikanische Kritikerin Julie
Salamon mit Recht zu dem euphorischen Bekenntnis veranlaßt hat: "Man
wünscht sich, sie würden weiter und weiter zusammen spielen, in einem Film nach
dem anderen."
Franz Everschor, FILMDIENST 1994/5